Es ist ganz früher Morgen und noch alles dunkel, eine Woche vor unserem Weihnachtsfest 2011, als meine Frau und ich in Äthiopien landen. Übermüdet nach unserem Flug mit langem ‚Stopover‘ in Kairo betreten wir eine für uns andere Welt.
Warum sind die Bankschalter in der Empfangshalle alle verlassen, jedoch liegen darin hinter Glasscheiben offen chaotisch große Mengen an Geldbündeln herum? Wir wissen es nicht. Warum hausen unter großen Tüchern in der Eingangshalle hunderte Menschen? Unser Chauffeur ist pünktlich und erklärt auf Nachfrage, dass diese staatenlose Flüchtlinge seien, gestrandet hier wegen politisch kaum zu durchschauenden – geschweige denn lösbaren – Konflikten zwischen den Ländern Äthiopien, Eritrea und Somalia. Während der Fahrt auf der kaum beleuchtenden Bole Street Richtung Innenstadt zu unserem Guest House sehen wir leicht bekleidete Frauen unterschiedlichen Alters am Straßenrand stehen. Das braucht uns keiner zu erklären.
Wir wachen im einfachen Zimmer unseres Quartiers am späten Vormittag auf. Das monotone Klopfen und das laute Singen, welche ich irgendwie versucht habe in meine letzten Träume sinnvoll einzubauen, stammen von den Arbeitern der nahen Hochhausbaustelle. Ein unfertiges Betongerippe, gerahmt von einem abenteuerlichen Gerüst aus Eukalyptus-Holzstangen, grüsst in den blauen Himmel. Willkommen in Addis Ababa oder der „Neuen Blume“, wie die ebenso rasant wie scheinbar planlos wachsende Hauptstadt Äthiopiens in der Übersetzung heißt. Der noch so jungen Stadt, sie ist nicht mal 120 Jahre alt, können wir keinen Reiz abgewinnen. Nicht so sehr die Hitze, der Schmutz und der Verkehr stören, sondern soviel Armut und Elend kontrastieren mit plakativem, für uns plump gezeigten Reichtum. Unser europäisches Gerechtigkeitsempfinden, ruhend auf einer soliden Wohlstandsbasis, wird auf eine erste Probe gestellt.
Am nächsten Tag lernen wir endlich unser Patenkind kennen, die fast sechsjährige Mahlet. Bis vor kurzem hat sie mit ihrer Familie an einer Friedhofsmauer gelebt. Nun ist sie im Förderprogramm der österreichischen Hilfsorganisation MyHope, lebt mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in einem von Spendengeldern gebauten „Shelter“ und geht schon zur Schule, welche wir ebenso besuchen. Der Lehrer bestätigt, dass sie einer der Klassenbesten ist. So gelingt es mit unserem „Amharic-English-Phrasebook“ und einer orginellen Zeichensprache sich mit ihr zu verständigen. Lachen ist zudem die universellste Sprache der Welt und Mahlet gewinnt uns mit ihrem spielend. Dieses so kleine und dünne Mädchen ist eine starke Kämpferin, die jede sich bietende Chance nutzt. Unsere eigene Ambivalenz spürend, versprechen wir ihr und uns, sie weiterhin zu unterstützen, damit sie überhaupt Gelegenheit bekommt, hoffnungsvolle und gleichzeitig realistische Zukunftsperspektiven ergreifen zu können.
Mit Terra Incognita Tours bereisen wir den Norden
Wir möchten das Land Äthiopien auch touristisch besser kennenlernen. Schon von Deutschland aus haben wir daher die klassische Nordroute via Internet problemlos gebucht – und auch vorab komplett bezahlen dürfen – bei einem örtlichen Reiseveranstalter mit dem etwas geheimnisvoll-theatralischen Namen Terra Incognita Tours. Das Büro in Addis Ababa liegt in der Haile Gebrselassie Avenue. Der Namenspatron dieser Geschäftsstraße wird in Äthiopien verehrt wie ein Heiliger. Als Marathon-Olympiasieger und Weltrekordläufer ist er das Vorbild ganzer Generationen. Ein praktischer Beweis dieser Hoffnung, dass jeder mit Fleiß und Talent seines Glückes Schmied sein kann, wenn auch in kleineren Maßstäben, ist die quirlige Chefin des Reiseveranstalters. Die gebürtige Ukrainerin lebt seit zwanzig Jahren in Äthiopien. Wir können nicht beurteilen, ob sie exzellenter Amharisch oder Englisch spricht, ihr zusammengestelltes Reiseprogramm für die nächsten sechzehn Tage verdient jedoch Bestnoten.
Die Stationen sind Lalibela mit seinen Felsenkirchen, Aksum als Zentrum einer vergangenen Hochkultur, der Simien Nationalpark, die Königsstadt Gondar und Bahir Dar mit dem See Tana. Wir sind von den kargen und atemberaubenden (Hochgebirgs-)Landschaften dieses so großen Landes tief beeindruckt und können jedem nur raten, es uns reisemässig nachzutun. Unser persönlicher touristischer Höhepunkt wird der Ort Hawzen, welchen die Ukrainerin Helena ohne unser Verlangen in das Programm eingebaut hat. Zuerst steht die Besichtigung einer einmaligen und nie zerstörten Felsenkirche an, die nur über eine senkrechte Felswand ohne Kletterausrüstung zu erreichen ist. Nach diesem sportlichen Abenteuer mit einer Überproduktion an Adrenalin geht es zur Erholung in die traumhafte und in sich abgeschlossene Gheralta Lodge.
Wie in einem romantischen Film nimmt uns die Schönheit Afrikas gefangen. Das gleichzeitig aufkommende schlechte Gewissen des europäischen Gutmenschen versuchen wir mit der etwas wirren Herzenslogik zu beruhigen, dass wir an Weihnachten uns es gut gehen lassen dürfen, auch wenn wir zwei Stunden zuvor noch die ärmlichen Behausungen der Dorfbewohner gesehen haben. Zu jeder Exkursion begleitet uns ein ortsansässiger Führer, so bekommen wir neben dem historisch-kulturellen Kontext auch viele persönliche Lebensgeschichten mit. Wie oft versuchen wir heiß diskutierend die afrikanische Mentalität zu verstehen. Oder anders herum, die Äthiopier lauschen ungläubig unseren Erzählungen über Deutschland. Extremer können Unterschiede nicht sein.
Äthiopien ist ein Land der Fußgänger. Auf den Landstrassen begegnen uns hunderte von Menschen mit ihren Tieren, stundenlang zum nächsten Markt ziehend, diese für ein paar Birr verkaufend, der äthiopischen Binnenwährung. Umgerechnet sind es oft nicht mal fünf Euros. Sammeltaxis bzw. -busse sind die einzigen Transportfahrzeuge der Einheimischen außer überladenen Lkws. Sonstige Privat-Pkws sind auf dem Land praktisch unbekannt, nur Addis Ababa wird von ca. dreißig Jahre alten japanischen Limousinen frequentiert. Von den Fremden, überall „Ferenchies“ gerufen, werden zumeist Geländewagen benutzt. Handelt es sich um ein Modell neuerer Bauart, ist es mit ziemlicher Sicherheit ein NGO-Fahrzeug, also eines der zahlreichen Nichtregierungs- bzw. Hilfsorganisationen, die Äthiopien vor allem im Schul- und Brunnenbau ihre Hilfe angedeihen lassen. Auch Touristen wie wir sitzen in „Four-Wheel-Drives“, dann aber zumeist in ziemlich gebrauchten Modellen.
Spezifische afrikanische Lernerfahrungen
Terra Incognita Tours hat uns mit Tsegaye seinen im wahrsten Sinne des Wortes erfahrensten Mitarbeiter zur Seite gestellt, ein Glücksgriff für uns. Sein fröhliches Wesen und kaum erschütterbarer Optimismus sind ansteckend; das Kennen von Leuten an jedem Ort und seine Fähigkeit der Improvisation, auch beim Fahren, sind Gold wert. Immerhin sind wir sechzehn Tage und fast 3.500 km gemeinsam unterwegs auf nicht immer guten und vor allem nicht immer asphaltierten Strassen. So lachen wir nicht nur sehr viel zusammen, sondern schlucken auch gemeinsam viel Staub. Unsere Verwunderung zu Reisebeginn, warum er unser Gepäck und die Kleiderspenden in feste Planen einwickelt, weicht der Erkenntnis, dass wir noch sehr am Anfang unserer Afrika Erfahrungen stehen.
Tsegaye stammt von der Mehrheitsethnie der Oromo ab, spricht aber auch fließend die Amtssprache der Amharen. Wir verständigen uns in Englisch. Durch ihn können wir hinter der sichtbaren, ersten Wirklichkeit eine neue Perspektive erkennen. Wie hätten wir sonst gewusst, hätte er nicht für uns gefragt, dass diese laut aus Büchern vorlesenden Jungen Bibelschüler sind, die weit von Zuhause weggegangen sind und nur von Almosen leben? Oder, dass der Mann mit seinen ein Dutzend Kamelen gerade einen 600 km langen Marsch in den Sudan unternimmt, um diese zu verkaufen? Er erfragt für uns in Gondar, wie hoch der Tageslohn der Zement schleppenden Bauarbeiterin ist, warum sie neben der vielen Hausarbeit das Familieneinkommen aufbessern muß. Ein anders mal hilft Tsegaye einem elfjährigen Mädchen seinen 25 Kilogramm schweren Wasserkanister zu schultern, vom trüben Wasserloch sollen es drei Kilometer Weg bis nach Hause sein. Und doch beeindrucken uns überall diese jungen Frauen, die mit natürlicher Anmut und Grazie schreiten, manchmal Kalebassen auf ihrem Kopf tragend. Trotz den Beweisen der Armut und den Beschwerlichkeiten des Alltages haben wir schon lange nicht mehr soviel lachende und scheinbar zufriedene Menschen gesehen. Vielleicht gibt es noch hinter den Ebenen von Sichtbarem und Erklärtem eine dritte Wahrheit. Wir wissen es nicht.
Äthiopien ist eine rasant wachsende Nation mit ganz vielen jungen und sehr wenigen alten Menschen. Vor den traditionellen Rundhütten, den Tukuls, stehen manchmal die acht Kinder einer Familie aufgereiht. Wir sehen ganze Horden an Schülern in einfachen Uniformen am Nachmittag ihren oft weit entfernten Behausungen zustreben. Einige Bilder gehen uns nicht mehr aus dem Kopf, sie sind intensiver und wirklicher als die vielen hundert auf digitalen Speicherkarten gebannten. Die vielen glücklichen Gesichter von tanzenden Kindern im Rückspiegel, denen wir gerade gekaufte T-Shirts, unsere Schuhe oder einfach nur einen Kugelschreiber geschenkt haben. Oder das Bild jener Hirtenjungen im Hochgebirge des Simien Nationalparks, welche morgens barfuß – über zugefrorene Pfützen laufend – das Vieh auf die dürren Weiden treiben. Es sind diese alten, gebeugten Frauen, welche riesige Holzlasten schleppen und sich beim Näherkommen zumeist als nicht mal Vierzigjährige herausstellen, die wir nicht vergessen können. Wir wollen wenigstens einen, unseren kleinen Beitrag als Paten leisten und Mahlet dieses Schicksal ersparen.
Nach drei Wochen Ostafrika kommen wir wieder in Bayern an. Unser Haus ist wohlig warm, alles ist liebevoll eingerichtet, wir werden mit einem Festessen empfangen von unseren Verwandten. Die können nicht verstehen, warum wir uns erstmal weinend in den Armen liegen und noch vor dem Auspacken der Koffer unseren Kleiderschrank von vielem Überflüssigen befreien. Unsere Spenden sind schnell wieder gepackt. Für unsere nächste Äthiopienreise wollen wir gerüstet sein, denn das Land mit seinen würdevollen Menschen hat nun einen festen Platz in unseren Herzen eingenommen.
Mehr Bilder von dieser Reise finden sich auch in meinem DIN A3-Fotokalender von Äthiopien, welcher im Handel erhältlich ist.
Zufällig bin ich auf deiner Webseite gelandet und bin bei deinem Äthiopien Reisebericht neugierig geworden. Du hast sehr offene, nicht-wertende und mutige Worte gefunden, diese bestimmt manchmal überwältigende Erfahrung der Reise zu beschreiben! Das hat mich beeindruckt. Das Lesen hat mich sehr berührt.
Danke und alles Gute!
Phoebe aus Hamburg