Das Tagebuch meines Berg-Pilgerweges über 200 Kilometer & 11.000 Höhenmeter in Osttirol, Südtirol und Oberkärnten in 9 Etappen von Lavant bis Heiligenblut im September 2019
Was erwartet mich am HOCH und HEILIG Pilgerweg? Die Nacht war nicht besonders, weil unruhig träumend. Um 7.00 Uhr stehe ich auf in der Pension – mit Blick aus dem Fenster auf den Lavanter Kirchbichl. Beim Frühstück rede ich mit einem Paar mittleren Alters aus Niederösterreich allgemein über das Wandern, Wetter und Klima. Keine Spur über das Pilgern. Und ich fühle mich auch nicht wie ein Pilger als ich um 9.30 Uhr wegkomme von meinem Auto am Parkplatz davor. Auch nicht, als ich oben den „Eröffnungs“-Stempel an der Kirche St. Ulrich finde. Keine Spiritualität also, dafür viele Gesichter, Stimmen und Geschichten der jüngsten Vergangenheit tauchen im Kopf auf.
Ich gehe zügig und lasse mir trotzdem Zeit, auch für Fotografie-Pausen. Das tut gut. Damit verschwinden die Stimmen und meine Ängste. Ich genieße die Schritte und die Natur, das ruhige Wasser am Tristacher See und seinen rauschenden Abfluss. Der Heilige Geist kommt nicht zu mir. Dafür überholt mich eine junge blonde Joggerin vor dem Ulrichsbichl, dreht dort und kommt mir wieder entgegen. Sie gefällt mir, kurze Begrüßung und gegenseitiges Lächeln. Ich wünsche ihr still von Herzen ein erfülltes, glückliches Leben und denke an meine Tina. Es geht sich unschwer, fast schon zu leicht, da ideales Wanderwetter herrscht, ein nicht zu heißer Sonne-Wolken-Mix.
Ich esse Äpfel und Zwetschgen direkt gepflückt von Leisacher Bäumen, ein einfacher und wahrer Genuss. Am Freiheitskampf-Denkmal an der Lienzer Klause mache ich schön Pause. Es ist erst 13.00 Uhr und ich habe und nehme mir Zeit, wie wohltuend. Eine Stunde bis Thal sagt das Wegschild. Doch es zieht sich nun. Ich strenge mich nun doch an und werde müde, weil ich unnötigerweise nach Oberthal gehe. Mache also Höhenmeter zu viel und damit einen Umweg zum Ziel St. Korbinian.
Eine wunderschöne spätgotische Kirche steht dort, 1460 begonnen und sehr bedeutend mit seinen Altären; ich sehe das interessiert aus kunsthistorischer Perspektive. Wann kommen Glaubensfragen? Brauche ich das überhaupt? Im 500 Jahre alten Gasthof Aue tut erst mal im schlicht-schönen Zimmer – mit eingesetzten Plastik-Badeeck – das Duschen gut.
Morgens um 6.00 Uhr wache ich schon auf vom Lärm der ganz nahen Pustertal-Bundesstraße. Doch ich habe gut geschlafen in dem einfachen Zimmer ohne Fernseher. Überrascht ist die Wirtin, dass ich wie angekündigt um 7.00 Uhr schon zum Frühstück erscheine. Ihre stark gebräunten Beine – gestern abends trug sie einen kurzen Tennisrock – sind heute verhüllt. Ihre gute Morgenlaune wird abgekühlt durch einen kurzen Streit mit ihrem Sohn, ich bin leider Ohrenzeuge. Erstaunlich gut fühle ich mich heute; eine kleine Blase am kleinen Zeh heilt ein Pflaster. Nach dem großen, imposanten Sägewerk des Ortes geht es steil einen Pfad bergauf. Es steht am Schild: 6 h 45 min bis Maria Luggau. Ich sehe das an als sportliche Herausforderung, nicht als spirituelle. Dafür habe ich heute keine trüben Gedanken.
Die einzige „Angst“ ist nur, daß ich auf dem langen östlichen Forst-Querweg die Abzweigung zum Daprakreuz verpasst haben könnte. Doch alles ist richtig. Ich gehe zügig und immer aufwärts. Das kann ich. Und alles ohne Stöcke, was gut ist im oberen steilen Geröllteil mit Seilversicherung vor dem Kofelpass. Statt der einen Stunde wie angeschrieben brauche ich nur vierzig Minuten. Dann Mittagspause bis 12.00 Uhr auf 1.877 m am Kofelpass. Nur die Schafe auf diesem Grasrücken sehen, dass ich die verschwitzte Unterhose herunterziehe zum Lüften.
Ich packe nun die Faltstöcke aus und gehe schnell den Fahrweg hinunter. Eine Gegensteigung nehme ich im Sturm. Und treffe ein Paar mit Hund, davor sind mir nur zwei Einzelwanderer entgegen gekommen. Es sind also keine Pilger mit mir auf meinem Weg. Und keine Gespräche damit, nur der Gruß „Servus“ bzw. „GriaßDi“ ertönt.
Ich komme fast zu schnell voran und mache am 45 Minuten-Schild bis Maria Luggau dann endlich viele Bilder von der alten bäuerlichen Kulturlandschaft des Kärntner Lesachtals. Trotz Pausen brauche ich nur gute sechs Stunden bis zum Kloster, sieben Stunden waren angegeben. Ich hole mir den Stempel. Am Kloster selbst erschrecke ich fast vor den vielen Menschen, einer Vorarlberger Reisebusgruppe mit Rentnern. In der Basilika spielt eine Dame dieser Gruppe Mundharmonika, die anderen singen dazu. Das so vorgetragene Kirchenlied rührt mich.
Es kommt wie es kommen muß bei der Quartiersuche, das Bildungshaus und der einfache Gasthof sind wie ausgestorben. Ich bin verwöhnt und erliege dem Luxus des ersten Hauses am Platz. Vier Sterne hat der Paternwirt. Und Sauna am Dach mit Panoramafenster. Mit zwei österreichischen Ehepaaren in den späten Fünfzigern komme ich dort zum Plauschen. Die finden meine Wanderung toll. Der eine Mann macht eine Bemerkung zu meinen strammen Wadeln. Das streichelt meine Eitelkeit und läßt mich über mich selbst grinsen. Diese Anerkennung will ich, mag ich und brauche ich. Ist das ein bescheidener Pilger? Verhält der sich so und genießt nach der Sauna das tolle Drei-Gang-Menü im Hotel-Restaurant? Oder ist das nur ein Klischee vom einfachen Leben des Pilgerwesens? Ich habe kein schlechtes Gewissen und schlafe wohlig müde ein.
Und wieder morgens weiter, nach einem überreichen Frühstücksbüffet mit zu großer Auswahl. Es ist schon angenehm warm. Trotz vielen Fotografierens komme ich gut voran. Mein Körper hat sich an die Anstrengung schon gewöhnt oder ist er so trainiert? Ich habe wohl eine sehr gute Grundlagenausdauer, auch wenn beim Wandern mir einiges mehr weh tut als beim Radfahren.
Um 11.00 Uhr Glockenschlag bin ich in Obertilliach. Die Kirche St. Ulrich gefällt mir, sie strahlt Ruhe und Licht aus, wohl aus dem 18. Jahrhundert stammend. Die vielen schlimmen Holzwindbrüche vom Oktober 2018, welche überall im Lesach- und Gailtal zu sehen sind, werden nun beim Aufstieg durch den steilen Waldpfad am eigenen Leib erfahrbar. Es sind mehrfach umgefallene, noch nicht bearbeitete Bäume zu übersteigen. Die Aufräumarbeiten werden Jahre dauern, schätze ich. Bis jetzt habe ich heute wieder wenige Menschen getroffen: Einen echten Wanderer, mehrere Spaziergänger (zumeist mit Hund) und italienische Pilzesucher (auch mit Hund, einem Dackel, ein Verwandter des Trüffelschweins?).
Über der Waldgrenze, am Berg, begrüße ich das Alleinsein, die Mittagsjause an einer urigen Holzhütte genießend. Im weiteren Wegverlauf sammele ich Blaubeeren mit herrlichem Geschmack. Es wird flacher, ich habe noch viel Kraft und nehme „Fahrt“ auf. Und denke an Tina am Dorfberg, dem heutigen höchsten Punkt. Weil ich nun gegenüber am Karnischen Höhenweg die Standschützenhütte sehen kann, wo wir vor Jahren gemeinsam übernachtet haben. Mit einem Lächeln esse ich die die Loacker-Waffeln, welche sie mir zu Hause mitgegeben hat.
Die über sechs Kilometer nach St. Oswald renne ich fast hinunter, mit Stöcken zur Sicherheit. Die dortige gotische Kirche ist wirklich schön, der Pilgerstempel liegt in der Kapelle daneben aus. Das gebuchte Hotel Cis liegt vor Kartitsch, ich muß eine steile Wiese zur Bundesstraße hinabgehen. Nur der 80jährige Seniorchef ist da, er weiss von meiner Buchung. 1980er Charme hat das Haus und zur Überraschung keinen Küchenbetrieb mehr. Also schnell duschen, mit Tina telefonieren und einen guten Kilometer nach Kartitsch zum Eßen gehen im Dolomitenhof. Ist auch schon egal. Nach dem Rückweg habe ich heute wohl fast 30 km Strecke gemacht. Im Bett erst bemerke ich meine müden, schweren Beine. Das wird bestimmt wieder für morgen, da es nach Innichen nicht mehr ganz so weit und schwer wie heute ist.
P.S. Ein kurzes Gespräch mit dem Seniorchef Cis ist heute eindrücklich gewesen als ich bemerkte, ob sein noch immer abwesender Sohn als Unternehmer eigentlich nicht immer arbeiten müsste. Nein, das tue er nicht, meinte der Alte. Er habe als Hotelier immer und zuviel gearbeitet, immer an das Unternehmen gedacht. Das bereue er nun, er kann es leider nicht mehr korrigieren, doch er hätte mehr leben sollen. Ich sagte danke, darüber würde ich nachdenken.
Nun ist morgens auch der Sohn André Cis im Hotel anwesend, begrüßt mich mit Handschlag. Ein mir nicht sympathischer Typ, weil übertrieben höflich. Ich fühle mich nicht wohl beim Frühstück, sitze alleine im türkisen 1990er-Ambiente des großen Wintergartens. Der Laden rechnet sich nie, irgendwie tuen mir auch Vater und Sohn leid.
Also wieder nach Kartitsch, hat eine unschöne Kirche im Inneren. Außerdem wischt gerade die Putzfrau naß. Der Wiesenweg dahinter durch morgendlichen Tau ist herrlich. Was ich noch nicht weiss – er sollte der schönste des Tages sein. Denn die Pilgerwegplaner sind heute nicht so gut: Schon bis zur Wallfahrtskirche Hollbruck ist viel Teerstraße zu gehen. Unten dann die Strecke am Drauradweg muss man sich teilen mit katastrophalen Nicht-Radfahr-Könnern, entweder sind es italienische Touristen auf Leihböcken oder schnelle E-Biker. Lächerlich wie sich Dicke im Supersportmodus hinaufkatapultieren lassen, sie testen den Weltmeisterkurs. Es findet nämlich gerade in Silian der Aufbau des Expo-Geländes zur E-MTB-WM statt … Welch andere Welt der Innenraum der Pfarrkirche, nur Stille und ein betender Mann.
Und weiter auf Teer südseitig hinauf den Silianberg. Die Planer wollten unbedingt den Drauweg im Tal vermeiden, der Steig Nr. 1 ist aber als Alternative nicht so gut. Ich bin bei der Mittagspause um 12.30 Uhr schon angenockt, ich gebe es zu. Vor allem meine Füße schmerzen. Dann nach der Staatsgrenze erreiche ich endlich Winnebach. Dort soll ich das Hotel Eggele für Tina auskundschaften, mache aber den Fehler zur schönen (und leider verschlossenen) gotischen Kirche zuerst hochzugehen. Um dann wieder unten im Hotel mit der Seniorchefin zu sprechen und Tina anzurufen. Ich bekomme ein alkoholfreies Bier auf Kosten des Hauses. Es wird nun zäh. Wieder hoch zur Winnebacher Kirche, dann nach Vierschach hinunter. Ich beiße und wähle den langen Radweg Richtung Innichen, nicht ganz streckenkonform. Die romanische Stiftskirche, die Basilika ist der Hammer. Die vielen italienischen Touristen im Ort überfordern mich leicht. Ich muß daher auch ein Hotel, ziemlich teuer und einfach, an der Bundesstraße beim Bahnhof nehmen.
Das Highlight des Tages: Nach dem Abendessen bei einem echten Italiener gehe ich in die Andacht um 20.00 Uhr in die Basilika. Ein toller Sprecher liest den Text der neuen Heilig-Kreuz-Broschüre des Dekans, dazu Orgelspiel. Ich spüre etwas von Vergebung, Verbundenheit, Liebe und richtigem Tun von mir. Am Ende wird die A5-formatige Broschüre verschenkt, welche ich gerne als zusätzliches Gewicht in den Rucksack verstaue.
Nachdem ich gestern Abend schon mit dem Wirt vom Hotel Walter lange geratscht und mit zwei alkoholischen Weizen fast zu viel getrunken habe, geht es heute morgens mit ihm gesprächig weiter. Er ist ein interessanter Mensch, zudem Skilehrer, auch wenn ich nicht mit all seinen politischen Ansichten übereinstimme. Und ich erfahre viel Lokales über Innichen durch ihn. Dann nochmals in die romanische Stiftskirche. Es ist fast schon halb zehn als ich meinen heutigen Weg erst beginne und dies gleich mit einem anstrengendem Aufstieg. Ich genieße das Alleinsein; mit mir selbst halte ich es gut aus.
Doch meine rechte Hüfte, der hintere Muskelansatz oben am Oberschenkel zwackt. Es ist eine alte Verletzung, welche ich gelegentlich auch beim Radfahren spüre. Ab der Silvesterkapelle nehme ich Stöcke, danach geht es besser. Davor auf und nun am Steig diese immer wieder tangierend, finde ich die in Mussolini-Zeiten erbaute Militärstraße toll angelegt. Die Betonbegrenzungen halten jedoch nicht so gut wie die fast 30 Jahre älteren des Ersten Weltkriegs – da sind es noch Steinmauern. Die E-MTB-Dichte an diesem Samstag ist enorm, viele einheimische Paare in meinem Alter. Ein Paar, welches am Strickberg laut redet über die angeblich so schwierige Plackerei hinauf, spreche ich an und meine, das sei doch mit Motorunterstützung nicht anstrengend. „Ich soll erst mal in ihr Alter kommen“. Das meinige lass ich den Mann schätzen, er meint 35. Nach meiner Antwort ist er ganz still.
Mein Bergfest auf dem Gipfel des Marchkinkeles ist schön. Unterhalte mich mit mehreren Wander- und MTBiker-Paaren, gegenseitiges Fotografieren. Ich fühle mich gut zur Halbzeit meines Pilgerweges. Auch die Hüfte ist ok, ebenso die Blasen und Wunden an den Füßen beherrschbar. Doch beim steilen, hochalpinen Abstieg fängt es in den Oberschenkeln zu zwacken an. Endlich finde ich auch eine Quelle mit köstlichem, saukaltem Wasser (und wieder Blaubeeren). Ich habe heute bis jetzt zu wenig getrunken bzw. zu wenig Flüssigkeit in die Flasche gefüllt. Ein Fehler aus Nachlässig- oder Überheblichkeit? Jedenfalls wird es beim Abstieg immer schlimmer, so zu hatte ich meine Schenkel schon lange nicht mehr. Es fühlt sich an wie ganz starker Muskelkater.
Ich schleiche, genauer quäle mich hinunter nach Kalkstein, gehe auf der Teerstraße an der telefonisch vorab reservierten Pension vorbei. Das Hinaufgehen zurück ist besser für mich als jeder Meter hinunter. Wie soll das morgen nur werden, ist ein Tag Pause vielleicht nötig? Der Ratsch mit der Wirtin und einem Einheimischen auf der besonnten Terrasse und dann das geschmackige Abendessen lassen erst einmal meine Probleme vergessen. Der Schlaf ist gut und gnädig.
Das ist mit Abstand der bisher schönste und beglückendste Tag des Pilgerweges gewesen. Es fängt schon damit an, dass ich früh und vor allem überhaupt losgehen kann, auch wenn ich die Schenkel noch spüre. Gott sei Dank. Dann komme ich an den Sinkersee und umrunde diesen – ein mystisch-schöner Platz.
Der Höhepunkt ist mein Eintreten in die Unterstaller Alm. In der geheizten Stube will ich erst nicht Platz nehmen; die fast sechzigjährige Wirtin macht mich dazu fast an, dass man es den Gästen auch nicht Recht machen könne. Doch als sie mir Kaffee und Buchweizentorte serviert, habe ich mit ihr das beste und tiefgründigste Gespräch. Sie erzählt von ihren 23 Jahren Ehe mit dem Pizzariabetrieb in Winnebach und ihrem Zutrauen hier diese Alm vor sechs Jahren zu pachten als Neuanfang von allem. Und den vielen verwirrten, ängstlichen Gästen bei ihr. Viele Pilger wären im Sommer vorbeigekommen. Fast nur Männer, alleine oder zu zweit. Ich erzähle auf ihre Nachfrage kurz meinen Beweggrund. Sie sagt sofort: „Der Grund war Eifersucht“. Ich solle Zutrauen und Vertrauen haben, glücklich sein, dass er mir gekündigt habe und ihm verzeihen. Ich habe mich sehr bedankt und bemerkt, ich habe keine Angst mehr. Dann sei ich schon sehr weit, meint sie, fragt noch nach meinem Namen und muß dann mit ihren Angestellten weiterarbeiten, da an diesem Sonntagvormittag schon einige einheimische Gäste da sind.
Sehr gerührt und gestärkt gelingt mir über einen grandiosen Hochalmweg in voller südseitiger Sonnenlage ein schneller Aufstieg zum Villgrater Törl. So glücklich wie da oben alleine unter blauem Himmel und alleine in der Bergwelt war ich schon lange nicht mehr! Da macht es auch Nichts, daß ich nicht so schnell wie üblich abwärts gehen kann. Den Gedanken noch 150 Höhenmeter extra vom Törl auf die Pfannspitze zu machen verwerfe ich sehr rasch wieder. Den Hatscher hinaus bewältige ich wie einen Bußgang.
Jedoch unten im Defereggental, die letzten 2,5 km Weg am Wasser nach St. Jakob, spüre ich schon, so schlecht wie gestern ist es nicht mehr. Die Kirche hat dann den Stempel, aber nicht das Pilgerband. Es ist trotzdem mein bester Pilgertag. Das Hotel hinter der Kirche hat sogar Sauna. In letzterer bin ich alleine und massiere meine Beine, wie wohltuend. Ich bin voll bei mir und dankbar. Der Rucksack-Rücken stinkt nun dermaßen nach Schweiß, ich kann den Eigengeruch selbst nicht mehr ab. Da ist nun das gute Modell Guide von Deuter auch unter die Dusche gekommen.
Obwohl ich in dem Hotelzimmer nicht so gut geschlafen habe (vielleicht gilt eine Raumerklärung, der hat komische Ecken, aus FenghShui-Sicht also ganz falsch), bin ich gut drauf. Und erneut dankbar, denn die Beine fühlen sich wieder gut und normal an. Die langen Etappen des Pilgerweges haben schon ihren Grund. Es soll einem Nichts geschenkt werden, Schwächen und Schwierigkeiten sollen auftreten und wohl gemeistert werden. Das ist die Lernaufgabe, welche zu erfahren ist.
Da es heute vom Start weg bergauf geht, bin ich in meinem Element. Wieder viel, viel zügiger komme ich voran als auf den Wegschildern die Zeiten angegeben sind. Der Ausblick am Beginn des Nationalparks Hohe Tauern von den alpinen Rasen auf das Defereggental und dahinter dem Hochgall ist nur schön. Noch ist der Himmel azurblau. Da ich um 11.00 Uhr schon auf 2.500 m Seehöhe an den Gritzer Seen bin, mache ich heute den Extra-Gipfelabstecher auf das Gritzer Hörndle. Bin sehr froh, oben steht ein fotogenes Kruzifix, der Blick auf die Seen ist famos.
Auf meine Aufstiegsleistung kann ich mich verlassen. Und ich bin erleichtert als beim Überschreiten des Virgen Törls der linke Oberschenkel zwar spürbar ist, aber ich wieder normal absteigen kann. Das brauche ich auch nach der Rast an der Lasörling Hütte (mit versalzener Suppe und einigen Bergsteigern – also nicht schön einsam wie gestern), denn der Weg ist lang durchs Mullitztal hinaus ins Virgental. Doch kein Vergleich zu den beiden Tagen der Qual zuvor: Ich komme bergab gut voran, fast wie am dritten Etappentag. Dann geht es nochmals 200 Höhenmeter bergauf nach Obermauern zur Kirche (und damit dem Stempel). Um 15.30 Uhr ruft meine Schwiegermutter an, will wissen wo ich bin und wie es mir geht. Zwar nicht richtig herzlich – wohl beidseitig begründet – doch nett von ihr. Die Fresken der Kirche sind unglaublich. Da Gläubige darin beten, will ich nicht lange stören. Auch brauche ich noch ein Quartier. In Obermauern gibt es keines mehr.
Es fällt mir ganz leicht noch die zwei Kilometer den Kreuz-Feldweg nach Virgen zu gehen. Ich bin wieder stark und vor allem gelassen. Und voller Vertrauen. Das erste offene Gasthaus – den Neuwirt – nehme ich sofort. Ich habe in zwei Minuten ein Zimmer und esse schon um 18.00 Uhr noch auf der Terrasse. Alles einfacher als das Hotel in St. Jakob zuvor, doch irgendwie besser und passender zum Pilgern. Ich bin voller Hoffnung und Zuversicht die beiden letzten Etappen auch noch zu schaffen.
Eine Bemerkung zu Tieren: Neben klarerweise immer wieder vielen Kühen und anderen Nutztieren sehe ich fast jeden Tag ein Eichhörnchen vom Weg vor mir auf einen Baum huschen. Und heute waren auch drei Murmeltiere sichtbar, deren Pfeifen höre ich öfters. Die sind so fett gewesen, dass sie nicht sehr schnell fliehen konnten oder wollten. Schön sind auch die vielen Grashüpfer und Insekten in den Wiesen. Doch nun das dritte mal in den letzten Tagen windete sich knapp vor meinen Schuhen eine Viper über den Weg. Heute bin ich ganz schnell weggesprungen, auf einen Biss kann ist getrost verzichten.
Von Virgen und dem Neuwirt geht es durch wunderschöne, mauergesäumte Flurwege leicht bergab. Es ist zwar warm, doch es herbstelt schon ganz leicht. Mich überkommt so etwas wie Abschiedsstimmung. Schließlich ist heute der vorletzte Tag meiner Pilgertour. An einem Fahrweg an der Isel steht ein Tesla Auto. Ich nähere mich diesem, um hineinzusehen. Nur ein großer Monitor, zwei Sitze und ein Lenkrad, sonst keine Instrumente. Dafür leuchtet nun am Monitor auf: „Wächterfunktion ist aktiviert“. Da scheint mir der Wächter über mein Leben – Herrgott oder wie auch immer benannt – doch wesentlich bedeutender und größer.
Die romanische Nikolauskirche bei Ganz ist die Wucht. Ein Juwel mit Unter- und Oberaltarraum sowie beeindruckenden Fresken. Es gelingen mir schöne Bilder auch von Außen als ich über Wiesen – regelwidrig zur Wegbeschreibung – hinuntergehe Richtung Matrei. Dort mache ich den Fehler in einem Hotel Kaffee und Marillenknödel zu bestellen, weil ich das benachbarte, etwas versteckte Café mit Regionalladen übersehe. Es dauert lange, ist nicht gut und überteuert. Egal, ich muß nun 1.200 Höhenmeter überwinden und habe für mich den Anspruch, dies zügig zu bewältigen, denn ich will in Kals nicht zu spät ankommen. Es wird nicht der schönste Anstieg der Tour, weil zuerst viele Asphaltkehren, dann ein Wirtschaftsschotterweg zu einem Lift folgen. Erst zum Schluß kommt ein steiler Steig, der ordentlich an Höhe gewinnt.
Ich mache 500 Höhenmeter pro Stunde. Doch spüre ich endlich oben am schönen Kals-Matreier-Törl Haus (wo ziemlich Betrieb ist, weil eine Kabinenbahn nicht sehr weit), dass ich hübsch etwas geleistet habe und etwas fertig bin. Trotzdem kann ich den steilen Abstiegsweg anfangs herunterlaufen. Es geht also wieder, kein Vergleich zu (vor-)vorgestern. Was bin ich froh und dankbar. Und auch stolz auf mich. Die romantische Kirche St. Georg unten in der Feldflur von Kals habe ich vor fast 20 Jahren das letzte mal gesehen, damals im Schnee. Nett nun auch, doch ich bin fertig und ungeduldig. Schaue nur kurz und flüchtig hinein; auch ein Bild im rechten Licht will mir nicht mehr gelingen.
Dafür läuft es in der nahen Kalser Pfarrkirche, finde den Stempel sofort. Mich wundern nur die darin laut diskutierenden österreichischen Rentnertouristen. Und nehme den Gasthof bei der Kirche sogleich. So mag ich das. In der Sauna treffe ich ein Paar, welches zu einer DAV-Summit-Gruppe gehört und mit Bergführer sowie organisiertem Gepäcktransport vom Königssee nach Innichen in sieben Tagen wandert. So geht es also auch. Ich sage denen, ich werte nicht, was die bessere Tourenart ist. Mit meiner bin ich sehr zufrieden, bemerke jedoch gegenüber Tina beim heutigen (und täglichem) Telefonat abends: “Jetzt ist es aber langsam gut, wird Zeit, dass mein Pilgerweg endet“. Und ich sehne mich so nach meiner Frau und freue mich auf zu Hause.
Morgens bin ich richtig motiviert für den letzten Pilgertag. Ich warte ungeduldig zusammen mit der großen DAV-Wandergruppe bis nach 7.30 Uhr, damit endlich der Frühstückssaal öffnet. Da das Frühstück schwach ist, komme ich schon um 8.00 Uhr weg und gehe zügig und doch verhalten (das ist kein Widerspruch!) zum Lucknerhaus. Erinnerungen werden wach an die Skitourenwoche dort, ich glaube im Jahr 2001 war das.
Dann bin ich nicht mehr zu halten und stürme die 700 Höhenmeter zur Glorerhütte (und an anderen vorbei) hinauf, ich bin in nur einer Stunde und zehn Minuten da. In der Sonne fletzen die drei Bedienungen. Ich suche mir die hübscheste aus und flirte mit der Studentin aus Linz. Auch noch beim Abstieg hält das Hochgefühl an, denn die Glocknerblicke mit der Salmhütte davor sind atemberaubend. Das Gletscherwasser sammelt sich grandios in steinernen Naturrinnen für den Abfluss ins Leitertal. Zudem kann ich einigen Murmeltieren zusehen. Doch der Abstieg zieht sich. Das Schild oben mit der Angabe von 4,5 h Wegzeit von Glorerhütte nach Heiligenblut wird doch nicht stimmen, oder?
Zudem zwickt mein linker Oberschenkel wieder. Der Übermut vom Vormittag ist weg. Nun also eher Qual, verbunden mit der Hoffnung, dass es bald vorbei ist. Auch den Wasserfall der Leiter am Ende der Tales kann ich nicht mehr richtig genießen, da der Abstieg daneben kniffelig ist. Wann kommt endlich diese verdammte Bricciuskapelle? Als diese auftaucht, setze ich mich ziemlich fertig auf die Bank neben der gleichnamigen berühmten Quelle. Ich mag nun nicht mehr. Hinter der Sattelalm – ich kehre nicht ein – eröffnet sich endlich ein Blick auf das Mölltal mit der bekannt-markanten Kirche von Heiligenblut. Auf diesen Augenblick hab ich die ganze Zeit hingearbeitet. Es ist ein erhebendes Gefühl und des Glücks; gleichzeitig denke ich: „Das ist noch recht weit weg, verdammt. Und ich bin doch schon so im Eimer“.
Dann bleibt der restliche Weg immer im Wald, die Kirche ist nicht mehr zu sehen. Vielleicht auch gut so. Um 16.00 Uhr höre ich die nahen Kirchenglocken läuten, zehn Minuten später gehe ich schleppend die Stufen zur Eingangstür hinunter. Der letzte Pilgerstempel. Erleichterung und Genugtuung, Dankbarkeit und Stolz. Alles mischt sich in mir. Dazu habe ich platte, schwitzige Füße und kaputte Beine. Ist das der Sinn des Pilgerns? Erstmal noch ein Selfie machen, dann an Praktisches denken, nämlich die Quartiersuche. Nach einem Umweg nach unten finde ich oben an der Kirche das schöne Hotel Glocknerhaus, welches gerade etwas hochtrabend in Nationalpark Lodge umbenannt wurde. In der neuen Saunawelt treffe ich wieder einmal ein Paar, diesmal aus Kärnten. Mit ihm verstehe ich mich sehr gut, wir unterhalten uns über Geschichte und Geografie, Bergbauerntum und Skitourengehen. Ein Resümee des Weges ziehe ich erst nach einmal Schlafen, also morgen.
EPILOG vom 19.09.2019 – Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen (Johann Wolfgang von Goethe).
Wie fühle ich mich nach einer Nacht? Zuerst mal leichtes Kopfweh und müde Beine, von wegen Euphorie, doch irgendwie auch gelassen. Ich habe erfahren Tiefpunkte zu durchstehen und andererseits sich auf mich und meine Stärken zu verlassen.
Bin ich ein besserer Mensch nach so einer Anstrengung des Pilgerns? Sicher nicht, doch ich hoffe im Alltag, in den nächsten Wochen, mir immer wieder entscheidende Momente des Wanderns vergegenwärtigen zu können. Wie ich mich gefühlt, wie ich mir bewußt gemacht habe, was wirklich wichtig ist (was ich auch schon davor wußte), nämlich Liebe, Hoffnung und Vertrauen. Das stundenlange Gehen ist wie eine Meditation, die immer wieder zu diesen drei Begriffen führt. Dies kann man auch den Weg zu Gott nennen.
Die vielen angezeigten Wegstationen – die Kirchen, Kapellen und Kruzifixe – sind gut zur Verdeutlichung dieser wirklich wichtigen Lebensdinge. Zumindest sind sie teilweise aussergewöhnlich schöne, kulturgeschichtliche bedeutende Bau-Denkmäler. Vor allem die romanischen Kirchen wie die Basilika in Innichen oder St. Nikolaus bei Matrei haben es mir angetan.
Doch ich möchte nicht pathetisch enden. Es ist nicht zu verschweigen, der Bergpilgerweg HOCH und HEILIG ist auch eine Schinderei. Ich habe großes Wetterglück gehabt, nie Regen, keine Schneereste mehr. Ein Teil der Route kann so bedeutend schwieriger und gefährlicher werden. Ich danke dem Herren mich nicht verletzt zu haben, nicht gestürzt oder mit dem Fuß umgeknickt zu sein.
Ich habe zusammengezählt: 197 Kilometer Wegstrecke bin ich gegangen. Die offizielle Angabe von ca. 200 stimmt also. Die Aufstiegsangabe von 12.000 bezweifele ich, meine Schätzung liegt bei 11.000 Höhenmetern. Das ist jedoch egal, es ging und geht ja nicht um Rekorde und Zahlen, sondern um mich selbst. Und diese Prüfung habe ich für mich bestanden. Nur das zählt.
Hallo Ronald!
Ich habe den Pilgerweg vom 4.6.- 12.6.2024 gemacht. Ich kann dir nur zustimmen, dass er nicht nur eine spirituelle, sondern auch eine sportliche Herausforderung ist. Nicht zu vergleichen mit anderen „berühmten“ Pilgerwegen. In meinem Fall war die Herausforderung auch eine Bergsteigerische: Die Steige im Zu- und Abstieg der Törln waren alle ab 2.400m noch mit Schneefeldern verdeckt. Also für Wanderer noch nicht geeignet. Keine Markierungen und Steige sichtbar. Die Wegfindung war nur mit GPS und spezieller Wanderapp möglich. Habe alle Quartiere vorgebucht, was kein Problem war da noch Vorsaison.
Gruß Gottfried
Hallo Ronald, dein Bericht hat richtig Appetit gemacht und ich werde in der zweiten Junihälfte 2024 den Weg in Angriff resp. Anfuß nehmen. Kondition habe ich dieses Jahr ab Mitte Februar schon auf der Via de la Plata und dem Camino Sanabres von Sevilla nach Santiago de Compostela erworben (knapp 6 Wochen/950 km), die ich mir mittels langen Läufen und Radfahren erhalte. Danke für deine Antworten auf meine Fragen!
Hallo Ronald. Bin den Weg ein Jahr vor dir gegangen und habe noch 2 Etappen von Heiligenblut bis Lavant hinzugefügt. Wenn ich deine Erzählung lese, hast du den Pilgerweg konditionell etwas unterschätzt.
Ich war nach 11 Etappen müde, aber nicht fertig. Trotzdem nett zu lesen, wie es anderen auf der Wanderung geht.
„Hoch und Heilig Plus“. Meine Schilderung zu dem Pilgerweg.