Die im Jugendstil erbaute Strudlhofstiege, eine große Treppenanlage im neunten Wiener Stadtbezirk, bildet die allumfassende Allegorie dieses in jeglicher Dimension großen und zutiefst österreichischen Romans von Heimito von Doderer, der die Entwicklung und Verstrickung sehr vieler Menschen, zumeist Angehörige der Oberschicht, kurz vor und nach dem Ende der k. u. k. Monarchie beschreibt, insbesondere den Major Melzer. Deswegen lautet auch der vollständige Buchtitel ‚Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre‘.
Mein Auslöser zum Lesen dieses gewaltigen Werkes liegt in der eigenen Familiengeschichte begründet: Mein Großvater mütterlicherseits wurde 1909 in Wien in einen großbürgerlichen Haushalt an der Ringstraße, genauer in eine 14-Zimmer-Wohnung mit Dienstboten und voller Dekadenz hineingeboren. Er erinnerte sich gut im Jahr 1916 aus dem Fenster auf den Trauerzug für Kaiser Franz Joseph gesehen zu haben, der Sarg auf einer Kutsche gezogen von acht Rappen. Dies war schon der innere Verfall der Monarchie, bevor zwei Jahre später die endgültige Niederlage und Zerteilung eines uralten Staatengebildes erfolgte. Diese Zäsur hat Millionen Menschen zutiefst betroffen, sie mussten sich mit ihren eigenen Lebensentwürfen an eine neue Zeit gewöhnen, sich in die nun kleine Republik Österreich einfügen.
Genau diesen Übergang, die äußeren und inneren Veränderungen in so vielen Biographien beschreibt Doderer, auch die erstaunliche Anpassungsfähigkeit von Menschen. Dies gelingt ihm kongenial durch ständige Rückblenden aus dem Geschehen der Jahre 1923-25 wieder auf die Zeit vor dem Krieg von 1910/11. Dabei scheint viel Wiener Lokalkolorit und k. u. k. Eigentümlichkeit, Wehmut und Witz, aber auch Bitternis über vergangene, scheinbar geordnetere und noblere Zeiten auf. Eine große Anzahl von Personen werden genannt, verschwinden wieder, um ein paar hundert Seiten später in anderen Zusammenhängen aufzutauchen. Das ist grandios und hat irgendwann eine Sogwirkung, wennn man als Leser „dran“ bleibt, also diesen 900-Seiten-Wälzer nicht über Wochen verteilt liest.
Autobiographische Bezüge scheinen überall durch
Die Strudlhofstiege ist 1951 erschienen und das Hauptwerk von Heimito von Doderer, hat ihn schlagartig berühmt gemacht. Es ist in weiten Teilen (und auch nicht!) der Entwicklungsroman des Major Melzers, der nach dem ersten Krieg als Amtsrat tätig ist. Und sicherlich steckt in dieser sympathisch angelegten Figur auch etwas von dem Autor. Aber vielmehr scheint dieser in der Nebenfigur René von Stangeler auf, einem intellektuell-verschrobenem, sich nicht festlegend wollenden Charakter und Schwerenöter. Umso mehr, wenn man aus dem Studium von Sekundärliteratur weiss, daß Doderer wie Stangeler 1916 in russische Kriegsgefangenschaft geriet und erst wieder 1920 nach Wien zurückkommen konnte.
Der Umstand, dass dieser 1. Weltkrieg mit seinen Schrecknissen nie in Details beschrieben ist, immer nur als Hintergrundfolie besteht, damit als Ursache aller äußeren (und auch inneren?) Umwälzungen wie ausgespart bleiben kann, ist für mich ein Faszinosium dieses Romans. Ein weiteres ist die Eigenart Doderers, die wichtigsten Erzählstränge ausschließlich auf die Sommermonate der beschriebenen Jahre zu beschränken. Hauptereignisse fallen fast immer in letzte warme Spätsommertage des Septembers. Und schließlich ist es seine wechselnde Erzählerperspektive. Zumeist ist er allwissend, kennt alle Motive und Gefühle der Protagonisten. Manchmal beruft er sich jedoch auf ominöse Chronisten und deren spätere Aufzeichnungen und vermutet nur Beweggründe. Doch immer wieder – wie die beschriebenen Personen – reflektiert man als Leser seine eigenen, inneren Lebenswendepunkte, die sog. Trópois. Diese Projektion auf sich selbst und sein Leben zeichnet große Literatur aus und schenkt persönlichen Lese- und Erkenntnisgewinn. Als lehrreiches Geschichtsbuch Österreichs taugt Doderers Werk jedoch nicht.
Zwei interessante, weil weiterführende Kritiken seien hiermit empfohlen, in welchen im Gegensatz zu dieser mehr zur eigentlichen Strudlhofstiege, dem Romangeschehen und zum Schreibtheorem des Autors zu erfahren ist, nämlich jene von Maike Albath und die von Clemens Götze.
Doch prüfe zuerst, ob Du dieses 900-Seiten-Werk wirklich lesen willst!
Und doch rate ich zuerst zu einer Leseprobe, an der sich jeder prüfen kann, ob ihm der überaus ausschweifende, assoziative Schreibstil Doderers persönlich gefällt. Ich greife genau aus der Mitte des Buches eine Seite heraus, symptomatisch mit seinen vielen Beschreibungen, Personenbezügen und ohne scheinbare Handlung:
„Mit der Frau Generalkonsul ganzer Haltung – die freilich auch ihre Zusammenbrüche kannte, was sie nur ehrwürdiger macht – war also ein nur sehr allmähliches und nie ganz deutliches Sichtbarwerden des Zustandes ihrer Ehe im Küffer’schen Familienkreise schon verbürgt, und nur Mary K. ihrerseits wußte als ältere Freundin vielleicht etwas mehr und doch lange nicht ganz Genaues. Freilich: es kommt alles heraus. Man müßte das übrigens einmal sämtlichen Schwindlern – eine Zunft, die immer wieder und mit immer gleicher langweiliger Ernsthaftigkeit Materialien wie dünnen Pappendeckel, nasses Seidenpapier oder zerfranste Wollfäden so verwendet, als wären’s Bretter, Leder und Seile – man müßte das endlich sämtlichen Schwindlern nachdrücklich zur Kenntnis bringen, was aber leider nur von den unnachahmlichen Situationen des Lebens selbst vermocht wird, wenn solche einmal Fenster und Einblicke eröffnen in’s Wachsfiguren-Kabinett oder etwa am würdigen Stuhle eines Redenden vorbei in den dahinter befindlichen wahren Spiegel der Situation … Genug, im Falle von Fraunholzers Frau wurde nichts durch Schwindel vertuscht, und sie gab sich nicht geordneter und unbeschwerter als sie war. Äußere Umstände jedoch verlegten einem rascheren Sichtbarwerden der Sachverhalte hier auch den Weg. Das Leben nach dem Kriege zu Gmunden entrückte die Eheleute dem Küffer’schen Elternhause zwar nicht so sehr wie die Jahre in Konstantinopel. Immerhin war man nicht zu Wien. Und als Fraunholzer nach seinem offiziellen Ausscheiden aus dem Staatsdienste auf Grund früher gewonnener Beziehungen dort unten in Belgrad Posto zu fassen begann – bis er schließlich die Affären eines großen österreichischen Hauses in einem weiten Gebiet von da aus leitete – verging auch mehr als Jahr und Tag mit der Erwägung, ob die Familie ihm überhaupt sollte nachkommen. Alles blieb in Schwebe.“
Ronald Siller | 2. Februar 2016